Mit dem Jeep Cherokee über die Ice Road

Über die Ice Road nach Tuk

Das Eis schmilzt

Von JÜRGEN ZÖLLTER

28.02.2016 •Abenteuerliche Reise bei Minus 40 Grad in den Nordwesten der kanadischen Arktis. Einzige Verbindung zur Zivilisation ist eine Straße, die langsam stirbt.

© ANDREAS LINDLAHR, F.A.S.

Auf nach Tuktuuyaqtuumukkabsi: Mehr als 60 Tonnen trägt die Eisschicht nicht. Lastwagen, die zu schwer sind, brechen ein und verschwinden im Fluss.

Eine malerische Winterlandschaft ist das nicht. Wenngleich es Eis und Schnee gibt, so weit das Auge reicht, so fehlt doch das, was die Zivilisation eine Landschaft nennt. Wir fahren über einen Fluss dem Polarmeer entgegen. Nicht auf einem Schiff, sondern in einem Jeep Cherokee.

Wir messen minus 40 Grad Celsius, die Fahrt geht über Eis. Kanadische Arktis, nördlich des Polarkreises. Dort, wo auf Fremde keine Hotels mehr warten, weil niemand freiwillig hierher reist. Wer dennoch kommt, braucht Arbeit und wohnt in einer lausigen Behausung. Das Schmerzensgeld lockt. Entbehrungen werden hier fürstlich entlohnt, denn süße Annehmlichkeiten des Südens verfallen hier in Froststarre. Nur das allgegenwärtige Internet verkürzt lange Nächte im Winter und lange Tage im Sommer. Es gibt nur wenige Siedlungen hier, die nördlichste heißt Tuktuuyaqtuumukkabsi.

Einbahnstraße der Zivilisation

Wir spuren durch die Eiswüste jenseits der Baumgrenze, wo die Taiga in die Tundra mündet. „Ihr fahrt in eine Einbahnstraße der Zivilisation“, wurden wir gewarnt. An ihrem Ende liegt Inuvik, ein 3000-Seelen-Nest, angeblich die größte Stadt Kanadas nördlich des Polarkreises. Wir erreichen sie über den North Klondike Highway, biegen in Dawson City auf den Dempster Highway ab und fahren 736 Kilometer Staubstraße nordwärts, bis nichts mehr geht. Für uns geht es hier erst los. „Wir wollen nach Tuktoyaktuk“, erklären wir an der letzten Tankstelle Inuviks und blicken in unverständige Gesichter. Dort gebe es doch nichts zu sehen, nur die Ice Road führe dorthin. Der Tankwart schüttelt den Kopf.

Eis-Straßen sind keine Erfindung des kanadischen Nordens. Zahlreiche Länder legen sie an, um über zugefrorene Seen und Flüsse Distanzen zu verkürzen. Doch anders im Mündungsdelta des MacKenzie-Flusses am kanadischen Polarmeer, das hier Beaufortsee heißt. Hier ist die Ice Road einzige Verbindung nach Tuktoyaktuk, das in der Sprache der Inuit Tuktuuyaqtuumukkabsi heißt. Doch weil der Ortsname mehr Buchstaben zählt, als hier Einwohner leben, sagt jeder nur „Tuk“.
Glatte Fahrbahn – Richtung Norden und immer geradeaus.

Taut das Eis, ist Tuk von der Außenwelt abgeschnitten, umgeben von unpassierbarem Moor. Folglich wird im Winter rangefahren, was geht. Alles, was mehrere hundert Inuit und neuerdings auch rund hundert Straßenarbeiter das ganze Jahr über benötigen. Auf Lastwagen mit maximal 60 Tonnen Gesamtgewicht. Mehr trägt die etwa 80 Zentimeter dicke Eisschicht des MacKenzie nicht. Wer die Tragfähigkeit überschätzt, wird im Sommer aus dem Flussbett gezogen. Oder nie.
Elektronische Helfer zwingen den Cherokee auf Kurs

Ist Inuvik aus dem Rückspiegel verschwunden, bleibt wenig, woran sich der Blick klammern kann. Findet er doch etwas, stockt dem Betrachter der Atem. Hat jemals ein Auto über Wasser ein Schiff überholt? Der Frachter liegt festgefroren im Eis und wartet auf den Sommer. Die Besatzung überwintert vermutlich in Florida.

Flussabwärts zieht die Einsamkeit der Eiswüste unter die Haut. Eine etwa zehn Meter breite Fahrrinne wird von Schneepflügen offen gehalten. Für die Versorgungsfahrzeuge nach Tuk. Kilometerweise geht es nur geradeaus, und unsere Blicke verlieren sich links und rechts der Fahrspur für Minuten in der unwirtlichen Natur. Dann wächst die Langeweile zum Koller heran. Wir entdecken den Reiz des Slalom-Fahrens, bei dem wir den Cherokee über die Haftungsgrenze der Reifen treiben. Durch entschlossenes Einlenken und gleichzeitiges Anbremsen verführen wir unseren „Häuptling“, den stabilen Geradeauslauf zu verlassen. Für Sekunden gelingt es. Doch dann ziehen die elektronische Helfer die Zügel an und zwingen uns wieder auf Kurs.

Wo fuhr jemals ein Auto übers offene Meer? Nur hier, denn im letzten Drittel führt die Ice Road über die zugefrorene Kugmallit Bay, und wir rätseln, ob das Eis unter uns wohl salzig schmeckt. Auf der Ice Road zu verweilen ist nicht vorgesehen. Es gibt keinen Rastplatz. Folglich parken wir in der Spur, stellen den Motor ab – und lauschen in die eisige Stille. Fein, ganz fein rauscht der Wind. Doch nein, es ist der vom Wind übers Eis getriebene Schnee, der an Eiskristallen reibt. Ab und zu ist ein trockenes Knarzen zu vernehmen.

Eis wird immer dünner

Tatsächlich entdecken wir tiefe Risse im Eis. Teilweise handbreit sind sie und erschüttern unser Vertrauen in die Tragfähigkeit nachhaltig. „Durch die globale Erwärmung friert der MacKenzie nicht mehr tief durch“, weiß Kylik, unser Scout. „Auch das Eis auf dem Meer wird dünner. Irgendwann wird es die Trucks nicht mehr tragen können. Deshalb bauen wir schon an einer Ganzjahresstraße nach Tuk.“

© ANDREAS LINDLAHR, F.A.S.

W: Tief unten im Permafrostboden lagern die Vorräte für das ganze Dorf.

Wir, das sind rund 100 Straßenarbeiter aus aller Herren Ländern, die in Tag- und Nachtschichten schuften, eine Staubstraße durch die Tundra treiben. Für ein Monatssalär von 10.000 Dollar, ihr Schmerzensgeld. Die Trasse soll 2017 fertiggestellt sein. Sie könnte die Einsamkeit nördlich des Polarkreises mit Leben erfüllen. Erst recht, wenn die jüngst entdeckten Gasvorkommen vor der Küste ausgebeutet werden.

Rentiere als Lebensgrundlage

Wer heute in die nördlichste Siedlung des kanadischen Festlands einfährt, glaubt zunächst eine Geisterstadt vorzufinden. Kleine Häuser stehen verstreut umher, eine Tankstelle, ein Supermarkt. Doch rauchende Schornsteine zeugen davon, dass Tuk am Leben ist. Leben? Na ja, was rund 600 Einheimische darunter verstehen. Nach draußen geht man nur, um nachzuschauen, ob eine Karibu-Herde durchzieht. Die Rentiere Nordamerikas bilden die Lebensgrundlage der Inuit hier, neben dem Fischfang. Ab und zu werden auch Bären und Füchse gejagt. Doch mehr, um deren Fell zu versilbern.

© ANDREAS LINDLAHR, F.A.S.

Straße mit Verfallsdatum: Tiefe Risse in der Fahrbahn zeugen von den Spuren der Klimaerwärmung. Weil die Eisdecke von Jahr zu Jahr dünner wird, bauen derzeit rund 100 Arbeiter an einer Staubstraße nach Tuk.

Warum also sollte „ein Südländer“ in den Wintermonaten Tuk besuchen, wenn nicht aus geschäftlichem Interesse? Etwa, um Lebensmittel oder Ersatzteile für die Straßenbau-Maschinen zu liefern oder um Tierfelle einzukaufen. Doch wer herkommt, verlässt Tuk wieder, so rasch es geht. Kein Restaurant lädt zum Verweilen ein, kein Hotel, nicht einmal eine Pension. Wir kriechen in einem Dreibettzimmer im Straßenarbeiter-Quartier unter. Die Betten sind noch warm, weil die Nachtschicht gerade ausgerückt ist.
Um 8 Uhr morgens müssen wir wieder draußen sein. Dann steigen die Nachtarbeiter rein. Unsere Schlafstelle ist auf einem Schiff, das immer dort ankert, wo Wanderarbeiter sind. Vor Tuk ankert es nicht, es ist festgefroren. Als wir am nächsten Morgen unseren Jeep Cherokee starten, scheint auch er die Rückfahrt sehnsüchtig zu erwarten. Sein Motor springt freudig an, ohne über Nacht von einer elektrischen Heizung gepflegt worden zu sein. Diese Zuneigung genießen die meisten Trucks, sofern ihre Motoren überhaupt jemals abgestellt werden. Wir verabschieden uns von der Ice Road mit Wehmut. Die Straße liegt im Sterben.

© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2001-2016

 
 

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